In der norwegischen Literatur gehört der 1995 verstorbene Tor Ulven zu den unverzichtbaren Autoren. Nach dem Roman „Ablösung“ folgt nun Ulvens Prosadebüt von 1988: „Grabbeigaben“.
„Grabbeigaben“ setzt auf unkonventionelle Weise ein. Es wird suggeriert, dass wir alle tagtäglich auf einer Menge von Gegenständen herumgehen – seien es „Hähnchenreste“, „Tonscherben“, oder „Meerschildkröten“.
Vergänglichkeit des Irdischen
Gleich im nächsten Absatz lauscht jemand der Tonaufnahme von Brahms „Tragischer Ouvertüre“, dirigiert von Arturo Toscanini. Die Aufnahme stammt vom 22. November 1953. Der Zuhörende sinniert über die Vergänglichkeit alles Irdischen.
Und den Plattenrillen entsteigen die Töne wie Seelen, gleichsam erlöst von der irdischen Hölle, aber außerstande, sich dem Himmel zu nahen; wieder und wieder mögen sie emporfliegen aus dem schwarzen Vinyl in einem verzweifelten Versuch, jenes Konzert vom 22. November zu verewigen, doch stattdessen hört man nur, wie unendlich weit weg es ist, immer weiter sich entfernt in eine unendliche Vergessenheit.
Was diese zwei Textstellen verbindet, ist eben die Vergänglichkeit des Irdischen. Auf der einen Seite ist es wahr, dass unter unseren Füßen eine Menge längst vergangener Gegenstände ruhen: etwa Reste uralter Klöster bis hin zu versunkenen Städten der Maya-Kultur.
In Tor Ulvens Prosatext wird auch von Ausgrabungen von Gegenständen aus der Prähistorie berichtet: etwa von bronzezeitlichen Blasinstrumenten – so genannten „Luren“. Archäologisch gesehen sind die Instrumente gesichert, doch ihr Klang, ihre Musik ist entschwunden – und damit ebenso vergänglich wie die Tonaufnahme von Brahms „Tragischer Ouvertüre“ dirigiert von Toscanini.
Das heißt: Alles, was wir aus der Vergangenheit ausgraben, sind letztlich Grabbeigaben für die Geschichte der Menschheit.
Drei Erzählperspektiven und ein Garten
„Grabbeigaben“ ist aus drei Perspektiven erzählt: Ein Ich- und ein Er-Erzähler, sowie eine Sie-Erzählerin. Diese Vorgehensweise gibt den recht unterschiedlichen Passagen eine gewisse Struktur.
Doch Ulven bietet keine inhaltliche fortschreitende Erzählung. Es sind viel mehr Erzähl-Mosaike, die durch stets wiederkehrende Motive zusammengehalten werden – etwa Gedanken über Vergänglichkeit und Tod, über Musik, über Sex und über Gegenstände des Alltags.
Das Mosaik-Ensemble soll aber keineswegs ein statisches Gesamtbild ergeben. „Fragmentarium“ lautet der Untertitel von „Grabbeigaben“. Zu den wiederkehrenden Motiven in „Grabbeigaben“ gehört auch der Garten.
Sie empfand eine immense Sehnsucht nach diesem Garten, sogar jetzt noch, da das Bild nur noch Erinnerung war, nicht weil der Garten sie an einen wirklichen Garten erinnerte, den sie selbst gesehen oder besucht hatte, sondern, im Gegenteil, weil es ein nie gesehener, für immer unrealisierter, unzugänglicher war, wie ein unsichtbarer Garten in einem Samen, der nie aufkeimen wird.
Der Garten – „locus amoenus“, der liebliche Ort in der Natur, künstlerisch ausgestaltet seit der Antike bis in unsere Zeit. Der Garten Eden – Ort der Eintracht mit Gott und den himmlischen Mächten. Ort, aus dem der Mensch für immer vertrieben wurde.
Dieser Garten ist Erinnerungs- wie Sehnsuchtsort – ein Ort, ohne Chance auf Erfüllung. Tor Ulven, der als Lyriker zu publizieren begann, zitiert ein einziges Gedicht in „Grabbeigaben“. Es ist „Ein Dröhnen“ von Paul Celan. Darin ist das Wort „Metapherngestöber“ gesetzt.
Ob Abstraktion oder Konkreta, viele der Wörter, die wir verwenden, sind Metaphern, Bilder, die unsere Erinnerung leiten. Sicherlich ordnen sie das Leben, doch hinter der Berechenbarkeit des Alltags steht stets das „Gestöber“ des Seins. So sieht es zumindest Tor Ulven.
Intensität der Sprachbilder
Zugegeben, „Grabbeigaben“ ist alles andere als ein hoffnungsreicher Text. Doch Ulvens Sprachkunst, die Dichte und die Intensität seiner Sprachbilder sind einzigartig zu nennen. Dass dies einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht wird, verdankt man der großen Übersetzungsleistung von Bernhard Strobel.
Man kann „Grabbeigaben“ auch mit einem Schuss Ironie interpretieren: Im Leben wie im Lesen arbeiten wir im Gestöber unserer Erinnerungsbilder am Mausoleum der Menschheitsgeschichte.
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