Beruf und Familie – wie ist das vereinbar?
Das ist der Unterschied im Vergleich zu früher, gerade bei Müttern: Heute lass' ich im Zweifel das Kind weg, ich lasse nicht mehr den Job weg. Früher war das genau umgekehrt. Da haben Frauen gesagt: Ich will auf jeden Fall Kinder, dann kann ich halt nicht berufstätig sein.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder die Möglichkeit Elternzeit zu nehmen, ohne sich um seine Stellung im Unternehmen oder der Institution sorgen zu müssen, das sind zwei Beispiele für familienfreundliches Handeln im Beruf. Aber auch die Familienpolitik in Deutschland hat eine Menge Baustellen zu bewältigen: Unter anderem fehlen bundesweit nach wie vor ca. 300.000 Kita-Plätze, in Baden-Württemberg sind es laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung etwa 60.000.
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Familienfreundlichkeit: Kita-Plätze wichtig, aber nicht einziges Kriterium
Die Antwort auf die Frage "wie familienfreundlich ist Deutschland" sei eine Frage der Definition, sagt Dr.Christina Boll. Man könne harte Kriterien anlegen: Wie ist die Familienpolitik aufgestellt, wieviel Geld bekommen Familien? Es gebe aber auch eine andere Perspektive:
Wie wohl fühlen sich Eltern in Deutschland, wie willkommen fühlen sie sich mit ihren Kindern? Da schneidet Deutschland nicht so gut ab. Eine Studie hat uns letztes Jahr [2024] auf Platz 13 gesetzt weltweit. Das muss einem schon ein bisschen zu denken geben.
Ein Beispiel: Die Entscheidung der Deutschen Bahn, die Familienreservierung abzuschaffen und statt 10 Euro für die ganze Familie für jedes Familienmitglied eine eigene Platzreservierung bezahlen zu müssen. So etwas bezeichnet Dr. Christina Boll als "massiv kontraproduktiv".
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Die niedrige Geburtenrate ist gefährlich für Deutschland
Aktuell liegt die Geburtenrate in Deutschland bei 1,35, sagt Boll. Eigentlich würden sich junge Menschen Familie wünschen, auch Kinder stünden groß im Kurs. Aber viele blieben mittlerweile länger im Bildungssystem, kämen dadurch später auf den Arbeitsmarkt und verdienten deutlich später ihr erstes Geld.
Gleichzeitig sollen sie aber eine Familie gründen – und das gehe eben oft nicht. Zumal sie oft nicht auf das Netzwerk zurückgreifen könnten, das es früher gab: Eltern, Schwiegereltern und das nahe Umfeld vor Ort.
Warum sinkt die Geburtenrate in Deutschland?
Deshalb, sagt Dr. Christina Boll deutlich, müsse Deutschland familienfreundlich im ureigenen Interesse sein, weil der Fortbestand der Gesellschaft von den Kindern abhänge. Ohne Kinder funktioniere unsere Sozialsysteme nicht mehr, weil es zu wenige gibt, die darin einzahlen.
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Wir müssen die Gesellschaft allein schon deshalb kinderfreundlich gestalten, um zu überleben. Deshalb ist es wichtig, zu schauen: Wie können wir es Familien ermöglichen – und auch Lust dazu zu haben – Kinder zu bekommen? Das heißt nicht, dass alles vom Staat finanziert werden soll, das wäre komplett der falsche Ansatz.
Kinderlosigkeit ist inzwischen sozial akzeptiert
In manchen städtischen Milieus ist Kinderlosigkeit fast schon normal.
Kein Wunder, dass die Geburtenrate so niedrig ist, meint SWR1 Hörer Klaus in einer Mail ins Leute-Studio: Bei fortschreitender Umweltzerstörung und einer insgesamt radikalisierenden Gesellschaft und Politik, könne man doch keine Kinder in die Welt setzen. Boll widerspricht: Die Forschung zeige, dass das nicht der tragende Faktor sei.
Die Kinderwunschforschung sagt, dass sich Eltern und speziell Mütter dann Kinder wünschen, wenn sie das Gefühl haben, sie können sich in allen wichtigen Lebensbereichen trotzdem entfalten – sie müssen zum Beispiel beruflich keinen allzu großen Schritt zurück machen.
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Veraltete Überzeugung: Mütter immer noch für Kinder verantwortlich
Ein großes Problem in Deutschland sei, dass meist Mütter unfreiwillig zurücktreten müssten, sagt Dr. Christina Boll. Teilzeit statt Vollzeit oder gar ganz aus dem Beruf aussteigen, weil es keinen Kita-Platz gibt – oder nicht verlässlich in dem Umfang, wie man ihn sich wünscht.
Der Grund liege in diesem ganz speziellen deutschen, sehr "privaten" Familienbild, das noch aus der Romantik des 19. Jahrhunderts stamme. Und der immer noch weit verbreiteten Überzeugung, dass die Mutter für alle Fragen rund um die Kinder verantwortlich ist.
Viele [deutsche] Eltern sagen: Wenn ich Kinder bekomme, dann möchte ich's richtig machen – richtig in Anführungszeichen – so, wie ich mir das vorstelle. Wenn das nicht gelingt, dann lass' ich's halt im Zweifel.