Auch eine renommierte Institution des deutschsprachigen Literaturbetriebs braucht einen wirkmächtigen Gründungsmythos: Die Bestenliste des damaligen Südwestrundfunks wurde 1975 vom Literaturredakteur und Fernsehmoderator Jürgen Lodemann initiiert. Bereits seit 1972 produzierte und moderierte er das „Literaturmagazin“ im südwestdeutschen dritten Fernsehprogramm.
Für den Buchmarkt war schon damals nicht das gedruckte oder audiovisuelle Feuilleton entscheidend, sondern das wöchentliche Erscheinen der Bestsellerliste im Hamburger Magazin „Der Spiegel“ – was weite Teile im Literaturbetrieb ärgerte. Lodemann wollte damals unbedingt herausbekommen, wie die erfolgreiche Verkaufsliste zustande kam. Er verabredete sich mit den Verantwortlichen in Hamburg, um sie vor laufender Kamera zu befragen.
Die Idee der Gegen-Orientierung
Es kursierten nicht nur wilde Gerüchte, sondern auch der konkrete Vorwurf, die eingehenden Daten aus den Buchhandlungen seien nicht repräsentativ. Es entstünde vielmehr eine Manipulationsliste mit dem Ziel, Bücher, die, wie es Lodemann formulierte, „ohnehin im Rampenlicht stünden, noch mehr nach vorn zu rücken“, um dann so richtig Kasse zu machen:
„Noch 1995 gestand Rolf Hochhuth im ‚Dichterclub‘, auch er sei schließlich mal Buchhändler gewesen und wisse noch genau, wie man das damals gemacht habe bei den Umfragen: Da haben wir dann halt diejenigen Titel angegeben, von denen wir wünschten, dass sie auf die Liste kommen.“
Lodemann wollte sich aber nicht nur über die Erhebungsmethoden des Bestseller-Rankings informieren, sondern die Redakteure auch mit der Frage konfrontieren, warum der „Spiegel“ neben dem Umsatzranking nicht auch eine qualitativ begründete Liste abdrucke, sozusagen als „Gegen-Orientierung“. Die Antwort war offenbar ein Achselzucken, gefolgt von der schnoddrigen Bemerkung, man sei „für „Weltverbesserung nicht zuständig, melde nur, was Sache sei“.
Nachdem das Interview im SWF ausgestrahlt wurde, berichtet Lodemann in einem Rückblick auf die Geschichte der Bestenliste, habe der Baden-Badener Schriftsteller Otto Jägersberg angerufen und ihm gesagt, das sei eine schöne Idee mit der Gegenliste, die er besser in seinem Literaturmagazin selbst realisieren solle, statt sie der Konkurrenz zu schenken. Wenige Monate später wurde die erste Bestenliste in Lodemanns Fernsehsendung präsentiert.

Angelegt als Anti-Bestsellerliste
Selbst wenn Details der Anekdote variieren, gibt sie doch Auskunft über die literaturjournalistische Haltung, die Lodemann gepflegt hat: Ein Programm zu machen, das darauf zielt, „das Publikum abzuholen“, wäre diesem Redakteur nicht in den Sinn gekommen.
Der Gründer der Bestenliste verortete seine Erfindung vielmehr als Versuch, „den dominierenden Erfolgs- und Umsatzlisten etwas entgegenzustellen, gegen den Kommerz eine wie immer geartete Qualität“ im Programm zu etablieren. Die Bestenliste wurde also als „Anti-Bestsellerliste“ angelegt.
Selbst wenn die Jury bald bemerkte, dass die Platzierungen nicht nur Aufmerksamkeit, sondern eben auch ökonomischen Erfolg der nominierten Bücher zur Folge haben konnten, war die euphorische Gründungsphase von einem unterschwellig antikapitalistischen Impuls geprägt. Das Konzept hatte laut Lodemann „etwas zu tun mit jenen aufklärerischen Unruhen, die in den ausgehenden Sechzigerjahren zu beobachten waren“, konnte durchaus als eine „Spätfolge jener antiautoritären Bewegung“ betrachtet werden.
SWR Bestenliste
SWR Bestenliste
Die Jury als Spiegel der (literarischen) Gesellschaft
Nach einer ersten Erprobungsphase erkannte Lodemann, dass die Jury möglichst breit aufgestellt werden müsse, und zwar „auch ideologisch oder mental“. So versuchte er, allzu deutlichen Mehrheitsverhältnissen in der Jury entgegenzuwirken.
Diese Erkenntnis folgte nicht zuletzt aus den Erfahrungen, die in den Anfangsjahren des Rundfunks gemacht wurden. In der Weimarer Republik gab es stark verfeindete Lager innerhalb der Literaturkritik, die nicht nur ästhetischen, sondern in der Regel auch politischen Strömungen zuzurechnen waren.



Um eine gewisse Gleichberechtigung der literaturkritischen Ansätze auch in der Bestenliste zu garantieren, durfte die Jury nicht zu klein sein. Aus anfangs 15 Kritikerinnen und Kritikern wurden schon bald doppelt so viele Mitglieder in die Jury berufen. Auch musste das Punktesystem verfeinert werden, damit eine valide Liste mit klar definierten Platzierungen herauskommen konnte. So hat sich nach erstaunlich geringen Anfangsschwierigkeiten ein Reglement ergeben, das seit vielen Jahren konstant bleibt.
So gilt für die SWR Bestenliste bis heute: 30 Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker wählen jeden Monat Neuerscheinungen aus, denen sie „möglichst viele Leserinnen und Leser wünschen“ und geben maximal vier Büchern, die in deutscher Sprache oder in deutscher Übersetzung erschienen sind, jeden Monat 15, 10, 6 und 3 Punkte. Ein Buch kann höchstens dreimal auf die Bestenliste gewählt werden.
Platz 1 (118 Punkte) Nina Bußmann: Drei Wochen im August
Ein unbeschwerter Sommer am Atlantik. Eine vermeintliche Idylle, in die das Unbehagen einsickert. Die Wälder brennen, ein Kind verschwindet. Nina Bußmann inszeniert einen Urlaub als ein leises und bedrohliches Kammerspiel.
Die Liste als Gesprächsangebot
Die SWR Bestenliste ist im deutschsprachigen Raum die Mutter aller Bestenlisten. Später sind unter anderem die Krimibestenliste des Deutschlandfunks, die Sachbuchbestenliste der ZEIT und auch die Empfehlungsliste „Weltempfänger“ hinzugekommen, für die eine Jury literarische Titel aus Afrika, Asien und der arabischen Welt auswählt, die ins Deutsche übersetzt worden sind.
Der Österreichische Rundfunk organisiert die ORF-Bestenliste mit einem Schwerpunkt auf österreichische Literatur, wobei es regelmäßig vorkommt, dass dieselben Titel auf verschiedenen Empfehlungslisten auftauchen.
Was die SWR Bestenliste von anderen Empfehlungsranglisten unterscheidet, ist ihr Selbstverständnis als Ort des literarischen Austauschs. Die monatlichen Diskussionsveranstaltungen der Jury und das jährlich stattfindende Treffen der Kritikerinnen und Kritiker in Baden-Baden sind wesentliche Bestandteile der Institution.
Die Gesprächsrunde zu den jeweiligen Bestenlisten findet seit Jahrzehnten als Publikumsveranstaltung statt, die zeitversetzt im Radio ausgestrahlt und auch in der ARD Audiothek abzurufen ist. Genauso wichtig für die Bekanntheit der Bestenliste sind die Flyer mit den platzierten Büchern, die seit Jahrzehnten im Buchhandel ausliegen und mit prägnanten Kurztexten über die nominierten Werke informieren.
Saumäßige Kriterien und Verbalmilitanz
In den ersten Jahren der Bestenliste wurden die vorderen Plätze in Lodemanns „Literaturmagazin“ verlesen, als handele es sich um die Ergebnisse einer Buch-Bundesliga. Erst mit der Einführung der öffentlichen Diskussionsrunden erfüllte sich der in die Liste eingeschriebene kommunikative Charakter.
So darf ein Bestenliste-Gespräch immer dann als gelungen gelten, wenn unterschiedliche Lesarten, wenn ästhetische Programme und Ideen herausgearbeitet werden. Das muss nicht im Streit enden, sondern geht in der Regel als produktiver Dissens über den Äther. Auf den legendären „Kritikertreffen“ der frühen Jahre ging es wohl noch etwas hitziger zur Sache, etwa als die Jurorin Caroline Neubaur vor der Kamera die Kriterien der Kollegen als „saumäßig“ beschimpfte.
Einmal wollte ein Kritiker aus Hass gegenüber dem „vermufften“ Fernsehen das Interieur des SWF-Studios kurz und klein schlagen und bekam dann eine Standpauke von Marcel Reich-Ranicki zu hören, der über die Verlogenheit solcher Verbalmilitanz herzog.

Buch des Jahres
Meist ging es allerdings konstruktiver zu in Baden-Baden, und so stand auf dem jährlichen Treffen der Kritikerinnen und Kritiker viele Jahre die Kür des Preises der Bestenliste auf dem Programm. 2024 hat die Jury mit Ronya Othmanns Roman „Vierundsiebzig“ zum ersten Mal ein „Buch des Jahres“ gewählt.
Die Jury hat erstmals abgestimmt Buch des Jahres der SWR Bestenliste: „Vierundsiebzig“ von Ronya Othmann
„Brisante Literarizität“ – Ronya Othmanns Roman „Vierundsiebzig“ ist als Buch des Jahres 2024 von der Jury der SWR Bestenliste gewählt worden.
Die Unzufriedenheit der Kritik
Zum Anekdotenschatz der SWR Bestenliste gehört gewiss der Zweifel Lodemanns „an den Zurechnungsfähigkeiten der von mir berufenen Juroren“. Immer „dann nämlich, wenn etwa aus der Zentralstadt unseres Handels und Wandels gleichlautende Votierungen eintrafen, oft vollkommen identische, auf den nicht nur die genannten Autoren und Titel übereinstimmten, sondern sogar deren Platzierung“.
Doch solches Gebaren gibt es längst nicht mehr, was wiederum zeigt, dass sich Literaturredaktionen verändert haben: Sie sind demokratischer geworden.
Wer sich die Listen der ersten Bestenliste-Jahrzehnte anschaut, wird viele Romane und Lyrikbände finden, die noch immer Bestand haben, auch heute noch als Referenz dienen. Andere Bücher entsprachen tatsächlich einem ästhetischen Zeitgeist, vielleicht auch dem subjektiven Geschmacksempfinden einer Gruppe von Kritikerinnen und Kritikern, die sich im Voting trotz der redaktionellen Vorsichtsmaßnahmen haben durchsetzen können.
Jurorin Sigrid Löffler wunderte sich mal in einer öffentlichen „Grübelei über kritische Mehrheiten“, dass ganz bestimmte Autorinnen und Autoren nahezu ein Bestenliste-Abo zu haben scheinen. In ihrem Rückblick auf die ersten 20 Jahre der Bestenliste schrieb sie von einer „komischen Verzerrtheit“:
„Wie sich da die diversen Ulla-Hahn-Girlanden durch die Jahreslisten ranken, anmutig abgelöst mal von den Sarah-Kirsch-Girlanden“, während sich „Weltliteratur von Kundera bis Lobo Antunes bis Nabokow und von Philipp Roth bis Julian Barnes schon verdammt anstrengen“ müsse, das sei eine Art „Nominierungsmirakel“.
Löffler ließ in diesem Beitrag durchblicken, dass sie die wundersame Stimmenverteilung natürlich durchschaue und wisse, dass es in Frankfurt – gemeint war unausgesprochen Marcel Reich-Ranicki – etwa einen Ulla-Hahn-Fanclub gebe.
Jörg Drews hingegen wünschte sich insbesondere in Hinblick auf die Lyrik „etwas mehr Verlässlichkeit“: „Daher ist es vielleicht am Ende doch nicht so schlimm, dass die Liste mit ihrer Autorität sich hinter die Erfolge der Lyrikerin Ulla Hahn und des Lyrikers Peter Maiwald stellte, ja diesen Erfolg noch verstärkte“.
Grenzüberschreitende Jury
Es gehörte immer schon zur Arbeit an der Bestenliste, über den regionalen und bundesdeutschen Tellerrand hinauszuschauen. Traditionell gab es von Beginn an eine Gruppe von Kritikerinnen und Kritikern aus Österreich. Auch die Schweiz war stets in der Runde vertreten. Schaut man auf die Liste der Namen, die in den ersten Jahrzehnten der Bestenliste Mitglied der Jury waren (und zum Teil noch sind), ergibt sich ein Who is Who der deutschsprachigen Literaturkritik.
Schon vor dem Fall der Mauer, also in den 1970er- und 1980er-Jahren, wurden zentrale Werke der sogenannten „DDR-Literatur“ auf die Bestenliste gewählt. Wie problematisch dieses Etikett war, das sich auf den biografischen Hintergrund der Autorinnen und Autoren und dem Wunsch eines Staates bezog, eine „sozialistische deutsche Nationalliteratur“ zu entwickeln, wurde nicht zuletzt mit dem Fall der Mauer deutlich, als die meisten Bücher, die in Verlagen der DDR erschienen waren, verramscht wurden.
Jury-Mitglied Cornelia Geißler nannte die Bestenliste zwar einmal „eine Veranstaltung der westdeutschen Literaturszene“, wies in diesem Zusammenhang aber auch daraufhin, dass mit Jurek Becker, Sarah Kirsch, Hans Joachim Schädlich, Günter Kunert, Christa Wolf, Volker Braun, Wolfgang Hilbig, Rainer Kunze, Christoph Hein, Uwe Johnson, Hans Mayer, Wolf Biermann, Helga M. Novak, Durs Grünbein, Stephan Hermlin und Thomas Brasch tatsächlich viele ostdeutsche Autorinnen und Autoren auf der Bestenliste landeten.
Kurioserweise erhielt Stephan Heym keinen einzigen Listenplatz, noch nicht einmal mit seinem bedeutenden Roman „Ahasver“.
Christoph Hein: Das Narrenschiff
Die persönliche Empfehlung
Tatsächlich gab es, solange die Bestenliste existiert, auch Unzufriedenheit mit den Resultaten, die meistens von den Jurorinnen und Juroren selbst vorgetragen wurde. Manchmal ging es auch nur darum, die Enttäuschung darüber mitzuteilen, dass der Favorit nicht durchkam. Mittlerweile hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Witz der Auszählung eben gerade darin besteht, dass sich eine, wie Lodemann es einst formulierte, „extreme Einzelmeinung“ gerade nicht durchsetzt.
Um dem Wunsch, nicht nur in einer Zählsumme aufzugehen, dennoch gerecht zu werden, wurde ab November 1981 die „persönliche Empfehlung“ eines Jury-Mitglieds eingeführt, die reihum ausgesprochen wird und die es bis heute gibt.
Persönliche Empfehlung aus der Bestenliste-Jury Iris Radisch empfiehlt Roland Schimmelpfennig - Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen
Mitglied der SWR Bestenliste-Jury Iris Radisch empfiehlt Roland Schimmelpfennig: Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen
Lustvolle Irrfahrt
Über die literarischen Vorlieben und das Vermögen, sich innerhalb der Jury zu organisieren, lässt sich viel spekulieren, doch 30 Kritikerinnen und Kritiker aus den unterschiedlichsten Medien sind dann eben doch eine so große Gruppe, dass die disparaten Perspektiven auf Literatur sichtbar werden.

Für den Prozess der Auswahl gilt, was die ehemalige Jurorin und spätere Kulturstaatsministerin Christina Weiss zum 20-jährigen Jubiläum der Liste einmal über das Wesen der Belletristik geschrieben hat:
Literatur verführt und stiftet Verwirrung. Literatur ist Lüge und Täuschungsmanöver. Literatur ist lustvolle Irrfahrt durch die Spielräume, in denen ein Leser seine Wirklichkeit aus Wörtern und Phantasiegebilden erfinden kann.
Dieses Verständnis von Literatur treibt die Jury gewiss auch nach 50 Jahren noch um, und damit erklärt sich, warum auf der SWR Bestenliste oft andere Bücher stehen als auf den inzwischen perfekt digital bestimmbaren Verkaufslisten.
„Es waren für mich“, schreibt Christina Weiss, „immer wieder Bücher, die nicht so leicht abzulesen sind, die mich am meisten reizten, für deren Platzierung auf der Liste der ‚Besten‘ ich am engagiertesten gefochten habe. Die Bücher, deren Geschichte nicht so ganz gradlinig heruntererzählt wird, die Bücher, die ihrem Leser Eigenarbeit abfordern, ihm dann aber umso mehr Anregung weiterzugeben vermögen.“